In der Kunsthalle Mannheim treffen zwei Disziplinen aufeinander, die dazu anregen, den Blick nach innen zu richten und die eigene Natur zu entdecken. Wir haben uns für euch in Shavasana begeben
Es ist Samstag, 10 Uhr morgens in Mannheim. Auch zu früher Stunde tummeln sich bereits zahlreiche Kulturinteressierte in der Kunsthalle, um die im November eröffnete Jubiläumsausstellung zur Neuen Sachlichkeit zu besuchen. Immer wieder kommen aber auch Menschen mit Sportmatten unter dem Arm durch die Tür. Denn in regelmäßigen Abständen findet hier die Veranstaltung „Yoga in der Kunsthalle“ statt, die sich stets einem ausgewählten Werk widmet, welches aus der Perspektive der Yoga-Philosophie betrachtet wird. Danach wird Yoga praktiziert – inmitten von Kunst und Besucher:innen.
Diesmal geht es um das Gemälde „Russisches Mädchen mit Puderdose“ von Lotte Laserstein. Es zeigt eine junge Frau mit Bubikopf, die vor einem kleinen Spiegel sitzt und mit einer Puderdose in der Hand ihr Gesicht betrachtet. Das Werk trägt die Essenz der Neuen Sachlichkeit in sich, jenes kunstgeschichtlichen Begriffs, der 1925 von Gustav F. Hartlaub, dem damaligen Direktor der Kunsthalle, geprägt wurde. Die Strömung steht für ein vermeintlich objektives Beobachten der Umwelt, eine sachliche und ungeschönte Annäherung an die Wirklichkeit. In der ursprünglichen Aus- stellung vor hundert Jahren waren nur männliche Künstler vertreten und das Bild der Frau spielte keine große Rolle. Rückblickend sieht das anders aus. Die Kunsthalle setzt sich mit dieser Dynamik bewusst auseinander, Körperideale und die Frau in der Gesellschaft sind wichtige Pfeiler der Ausstellung.
Nach einer Einführung durch die Programmkuratorin geht die Yogalehrerin Birgitt Held in die Tiefe der yogischen Interpretation. Der Blick in den Spiegel, so sagt sie, sei nicht nur eine ästhetische Geste, sondern eine Einladung zur Selbstreflexion. Was sehen wir, wenn wir uns selbst betrachten? Sind es die Erwartungen anderer, die unser Bild prägen, oder wagen wir es, hinter die Fassade zu blicken? Yoga und Meditation helfen, diese Fragen zu erkunden. Sie schaffen einen Raum, in dem wir Verbindung zu unserer wahren Natur aufnehmen können – zu dem, was schon immer in jedem einzelnen Menschen da war.
„Yoga ist – genauso wie Kunst – etwas sehr Individuelles“
In der Yoga-Philosophie gehört Satya, die Wahrhaftigkeit, zu den fünf Yamas, den ethischen Leitlinien für den Umgang mit der Umwelt. Sie fordert die Menschen auf, authentisch zu sein, keine Masken zu tragen, sondern ihr wahres Selbst zu zeigen. Auch Lasersteins Werk, so Birgitt Held, könne als visuelle Einladung verstanden werden: Sei so, wie du bist. Das „Russische Mädchen mit Puderdose“ symbolisiere keine oberflächliche Schönheit, sondern die Suche nach einer inneren Wahrheit, die über die äußere Erscheinung hinausgeht.
Im Anschluss leitet Held einen sanften Flow an, der sich auf herzöffnende Asanas konzentriert. Diese Rückbeugen schaffen nicht nur Raum für tiefes Atmen und Loslassen, sondern laden auch dazu ein, sich mit dem eigenen Inneren zu verbinden – eine körperliche Übersetzung der zuvor angeregten Fragen nach dem wahren Selbst und der eigenen Offenheit.
Im Gespräch erzählt sie, wie das Konzept von „Yoga in der Kunsthalle“ erstmals entstand. Den Anstoß habe ein ehemaliges Projekt der Kunsthalle gegeben, die „Akademie für Jedermann“. Dabei wurde ein innovativer Kulturtreffpunkt geschaffen, in dem Kunst für alle, auch jenseits von Gemälden und Ölfarbe, zum Beispiel durch Musik oder Performances erlebbar gemacht wurde. „Yoga ist – genauso wie Kunst – etwas sehr Individuelles.“ Man könne dadurch seine eigene Natur nach außen tragen und sich entfalten. Yoga werde noch immer häufig nur als Körperübungen und Sport gesehen. Durch Projekte wie dieses möchte sie zeigen, dass es viel mehr als das ist. Oft lasse man sich davon abschrecken, nicht den richtigen Raum zu haben, etwas Neues zu probieren. „Raum ist überall, wir grenzen ihn nur zu sehr ein“, betont Held und spricht damit eine zentrale Idee des Projekts an: die Möglichkeit, gewohnte Strukturen aufzubrechen und neue Verbindungen zu schaffen. Bereiche, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben – wie Kunst und Yoga – können in einem gemeinsamen Raum aufeinandertreffen und neue Wege der Ausein- andersetzung mit Körper, Geist und Kreativität erkundet werden.
Die Ausstellung ist noch bis zum 9. März 2025 in der Kunsthalle Mannheim geöffnet. Wer sie sich gerne in Verbindung mit einer Yogaeinheit anschauen möchte, hat dafür das nächste Mal am 18. Januar die Gelegenheit.
Von Eileen Taubert
...studiert Französisch und Germanistik. Seit 2022 schreibt sie für den ruprecht über die kleinen und großen Fragen des studentischen Alltags.