Von 1998 bis 2005 hieß es „Rot-Grün an der Macht“. Der Historiker Edgar Wolfrum untersucht diese Ära in seinem neuen Buch
Die Zeit der rot-grünen Koalition ist den meisten als eine Zeit der Umbrüche in Erinnerung geblieben: das Ende der „Ära Kohl“, der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin, im Kosovo der erste Krieg mit deutscher Beteiligung seit 1945. Später die Terroranschläge des 11. September, deutsche Soldaten in Afghanistan und die Weigerung gegen den Einmarsch in den Irak, dazu im Inland Hartz IV und die verheerende Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen, die zu Neuwahlen im Bund und schließlich zum Ende der Regierung führte.
Der Professor für Zeitgeschichte Edgar Wolfrum hat sich in „Rot- Grün an der Macht. Deutschland 1998 – 2005“ dieser Ära gewidmet und bereits acht Jahre nach dem Ende des Duos Schröder/Fischer ein 848 Seiten umfassendes Werk vorgelegt, das die Epoche unter die Lupe nimmt. Viele der wichtigsten Akteure der Koalition standen dabei für über 30 Interviews bereit oder stellten private Dokumente zur Verfügung. Vom damaligen Regierungssprecher Steg bis zum heutigen Kanzlerkandidaten Steinbrück gaben die Protagonisten der Koalition ausführlich Auskunft; selbst Altkanzler Gerhard Schröder gab bei mehreren Anlässen Einblick in seine Beweggründe bei Entscheidungen über Krieg und Frieden oder die Zukunft des Sozialstaats: „Schröder wies sich gleich beim ersten Treffen als Pragmatiker aus und überraschte mit der Frage, wozu er Geschichte brauche“, erinnert sich Wolfrum an die schwierige Begegnung. Nach mehreren Anläufen und einer schriftlichen Ermunterung vonseiten des Historikers – Schröder wolle doch nicht als erster „geschichtsvergessener“ Kanzler der Bundesrepublik gelten – ließ sich schließlich auch der Altkanzler auf das Projekt ein.
Doch ist die Frage berechtigt, warum sich die Historiker bereits acht Jahre nach ihrem Ende mit der Epoche beschäftigen sollten. Wolfrum selbst wiegelt ab: „Die Motivation lag vor allem darin, von der weiterhin vorherrschenden Lagerromantik auf der einen und der Totschlägerei des Projektes auf der anderen Seite wegzukommen.“ Durch die Interviews mit den Beteiligten könne auf eine Fülle von Wissen zurückgegriffen werden, das bereits jetzt und „nicht erst nach der Öffnung irgendwelcher Archive in 30 Jahren“ zur Verfügung stehe. „Das bedeutet, Geschichte niederzuschreiben, solange sie noch qualmt, also eng am gesellschaftlichen Prozess“, führt der Historiker aus. Er wolle zeigen, was die gegenwartsnahe Zeitgeschichte leisten kann, die im Vergleich zu Großbritannien und den USA hierzulande zögerlich agiere.
Überraschende Befunde
Die ersten Reaktionen innerhalb der Forschung fallen durchweg positiv aus; die wichtigsten deutschsprachigen Historiker Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler zeigten sich überzeugt. „Aber alleine hätte ich es nie geschafft“, stellt Wolfrum klar und erinnert daran, dass insgesamt acht studentische Hilfskräfte und vier Doktoranden Interviews vorbereiteten und in einem Büro, „vollgestopft bis unter die Decke“ Quellen gesichtet und geordnet haben.
Ein Blick ins Buch zeigt dabei die Fülle an Material, die in drei größere Abschnitte eingearbeitet wurde: „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ beleuchtet die Umbrüche bis zu den Terroranschlägen im Jahr 2001 und zeichnet die von Rot-Grün angestrebte Erneuerung der Gesellschaft nach. Ein zweiter Teil untersucht die Auswirkungen von 9/11 auf die Innen- und Außenpolitik und fragt nach Deutschlands Rolle in Europa und der Welt, bevor die Koalition in „Agieren aus der Defensive“ bis zu ihrem Ende begleitet wird.
Die relativ kurz gehaltenen Unterkapitel erinnern an zeitgeschichtliche Werke wie „Das Zeitalter der Extreme“ des britischen Historikers Eric Hobsbawm; immer wieder fließen zudem Themengebiete wie Ökologie, Sicherheitspolitik und Atomausstieg ein, deren wichtigste Weichenstellung in der Zeit von 1998 bis 2005 vorgenommen wurde. Kapitel um Kapitel wird dabei deutlicher, dass eine „Schönwetterregierung“ von Beginn an ausgeschlossen war und die Weltpolitik immer wieder die Innenpolitik beeinflusste.
Auch einige überraschende Befunde hält das Buch bereit: So wird in der Aufarbeitung der Atomausstiegs-Debatte deutlich, dass der damalige Umweltminister Jürgen Trittin beinahe an seiner eigenen Partei gescheitert wäre und die Koalition in diesem Kontext mehrfach vor dem Auseinanderbrechen stand. Auch wird detailreich herausgearbeitet, welch immensem Druck die Koalition seitens der USA ausgesetzt war, als sie zusammen mit Frankreich und Russland eine „Koalition der Unwilligen“ bildete und den Krieg gegen den Irak verurteilte und wie sich in der Diskussion um die Agenda 2010 die Grünen als die eigentlich treibende Kraft erwiesen.
Das Projekt Rot-Grün hilft, die Gegenwart besser zu verstehen
Wenn man schließlich mit Blick auf die Bundestagswahl in zwei Monaten nach der Zukunft des rot-grünen Projektes fragt, sieht Wolfrum zunächst wenig, was für eine Neuauflage spricht: „Die immense Aufbruchsstimmung, die 1998 vorherrschte, lässt sich nicht wiederholen“, wagt er eine Prognose und fügt hinzu: „Das aus den rot-grünen Jahren stammende permanente schlechte Gewissen schwächt die SPD zudem weiter“. Als die eigentlichen Profiteure der Konstellation sieht er vielmehr die Grünen, deren Ideen zu dieser Zeit salonfähig wurden.
Fernab von Prognosen überzeugt das Werk durch seine Detailfülle und eine leserfreundliche Schreibweise und zeichnet so ein umfassendes Bild der Epoche. Dem Leser ermöglicht es ein besseres Verständnis des „Projekts Rot-Grün“ und trägt so kurz vor der Bundestagswahl dazu bei, mit den Erkenntnissen der Zeitgeschichte auch die Gegenwart besser verstehen zu können.
von Peter Hachemer