Leicht, elegant und von nüchterner Schönheit: Gill Sans gilt als die Schrift, die mit englischem Akzent spricht. In London begegnet man ihr überall. Eine typographische Exkursion.
Buchstaben sind Dinge, sagt Eric Gill, nicht das Abbild von Dingen. Ein Gedanke, der das Betrachten von platten Werbesprüchen ebenso erleichtert wie das Warten in der Tube: Kann man sich doch hier, im Mutterland der serifenlosen Typographie, wenigstens an geschmackvollen Schriftarten erfreuen. Serifen, das sind Schnörkel an den Enden gedruckter Buchstaben. Und Gill Sans, benannt nach ihrem Schöpfer, ist eine Schrift, die auf ebendiese Linien verzichtet.
Populär wurde sie wegen ihrer frühen Verwendung durch die britische Eisenbahn, später zierte sie die Cover der berühmten Penguin-Taschenbücher, heute findet sie sich im Logo der BBC. Gill Sans ist allgegenwärtig in England – und vermutlich noch stärker verbreitet als die unvermeidlichen „Keep Calm And Carry On“-Poster, die zwar nicht in Gill, aber in einer ihr so stark ähnelnden Schriftart gedruckt sind, dass man sie permanent darauf zu sehen glaubt.
Das ist kein Zufall: Schließlich ist Gill Sans der Inbegriff dessen, was als britisch gilt. „Der Grund für ihre Popularität liegt in den dahinterstehenden Ideen. Gill scheint modern, demokratisch und auf eine angenehme Weise ausgefallen zu sein“, erklärt Paul McNeil, Schriftendesigner und Leiter des Masterstudiengangs „Contemporary Typographic Media“ an der University of the Arts in London. Durch ihre universelle Verwendung in Werbung, Medien und zuletzt gar dem Gesangbuch der anglikanischen Kirche sei Gill Sans zu einer Schrift geworden, die wie keine andere „Britishness“ verkörpere.
Das Besondere an ihrem Design besteht in der Verbindung von geometrischen und humanistischen Prinzipien. Das heißt, ihre Gestaltung ist einerseits der industriellen Produktionsweise der Moderne verpflichtet, basiert aber andererseits auf dem Ideengut der Renaissance, die wiederum den Entwurf antiker Inschriften zum Vorbild hat. So kann Gill zugleich auf vorindustrielle Ornamentierung verzichten, ohne dabei zu geometrisch und kalt zu wirken.
Letzteres gereichte oft der deutschen Futura zum Vorwurf, die streng nach dem geometrischen Prinzip gestaltet ist und auf humanistische Merkmale weitgehend verzichtet. Nichtsdestoweniger wurde Futura in den 1920er Jahren immer beliebter, weshalb der britische Typograph Stanley Morison im Auftrag seines Arbeitgebers Monotype nach einer konkurrenzfähigen Alternative suchte. Der darauf hin entstandene Entwurf von Eric Gill wurde zum durchschlagenden Erfolg – nicht zuletzt aufgrund des ihn vermarktenden mächtigen internationalen Konzerns.
Als Vorbild für sein Design diente Gill eine andere serifenlose Schrift: die Johnston Sans, erkennbar am kreisrunden O und den auf den i-Minuskeln balancierenden Karos. Sie beschriftet schon seit 1916 – und bis zum heutigen Tag – die Karten und Schilder der Londoner U-Bahn. Gill selbst hatte bei ihrer Entwicklung kurzzeitig mitgearbeitet, fand ihre Formensprache aber nicht einfach und klar genug.
Bis heute streiten Typographen jedoch darüber, ob ihm mit seinem 1928 vorgelegten eigenen Entwurf eine Verbesserung gelungen ist. Paul McNeil etwa zeigt sich von Gills Schriften-Design wenig begeistert. Die Formen seien ihm „zu fromm“, geradezu „scheinheilig“. „Eric Gills Werk ist meisterhaft – aber langweilig“, findet er. Ein Ende der Dominanz ist dennoch nicht abzusehen: „Schriften enthalten Bedeutungen und sind mit bestimmten Werten verbunden, für den Leser oft unbewusst. Mit Gill funktioniert das besonders gut – deshalb wird sie bleiben.“ Ein Glück.
Kann man sich an Gill Sans sattsehen? Schwer vorstellbar, solange es Zeitgenossen gibt, die ihre Texte in Arial setzen. Einem Briten mag die Schrift – von ihrem Schöpfer bewusst möglichst simpel gehalten – als langweilig erscheinen. Für den Besucher aber bleiben die Buchstaben des Gill-Alphabets – der gekrümmte Fuß des kleinen a, das so geschickt proportionierte O, vor allem aber das brillante brillenartige kleine g – ein Erlebnis.
von Kai Gräf