Das Projekt Book Crossing versucht, Menschen auf aller Welt durch Bücher zu verbinden. Doch das Konzept geht nicht immer auf.
Der Tod des Buches wurde schon vor über zwei Jahrzehnten angekündigt. In seinem Artikel „The End of Books“ vom 21. Juni 1992 sagte der Schriftsteller und Literaturprofessor Robert Coover dem non-linearen Hypertext eine glorreiche Zukunft voraus. Da diese neue, viel stärker intertextuelle Form der Literatur durch den Computer bedingt sei und sich nicht ins Printformat übertragen lasse, begrub er mit dem linearen Roman das gedruckte Buch gleich mit.
Coover hat, was den Hypertext angeht, allerdings nur begrenzt recht behalten: Schaut man sich einen beliebigen Artikel der Online-Ausgabe einer Zeitung an, findet man nicht nur in den Text eingebettete Links, sondern auch Videos, Dossiers und Buttons für die sozialen Netzwerke. Gleiches gilt für Weblogs und Online-Magazine. Im Journalismus ist der Hypertext überall. Doch auch wenn er aus journalistischen Texten im Internet nicht mehr wegzudenken ist – für die Belletristik ist er nicht wichtig genug, um das linear erzählende Buch zu verdrängen. Eine Prognose besagt zwar, dass der Absatz von E-Books in Deutschland sich im nächsten Jahr verdoppeln wird. Mit einem Marktanteil von unter fünf Prozent machen die elektronischen Bücher den papiernen bisher jedoch kaum Konkurrenz.
Dass die meisten Leser weiterhin eher zum gewöhnlichen Buch greifen als zum E-Book-Reader – darauf setzt Book Crossing. Seit ihrer Entstehung im April 2001 versucht die Webseite, Menschen weltweit durch Bücher zu verbinden. Book Crossing funktioniert ähnlich wie Geocaching.
Nachdem man sich auf der Seite registriert hat, kann man seine Bücher mit einem Code versehen und teilen. Dabei kann man sie entweder an Freunde oder Unbekannte weitergeben oder „freilassen“, das heißt sie an einem beliebigen Ort deponieren, damit sie von anderen gefunden werden. Als ich die „Über Book Crossing“- Sektion auf der Webseite durchlese, schäme ich mich ein bisschen. Es finden sich Formulierungen wie „Sperr deine Bücher nicht ein!“ oder „Dein Buch will nicht Staub sammeln, es will raus und andere Leben berühren!“ Und tatsächlich: Wenn ich mir mein Bücherregal mal etwas genauer anschaue, entdecke ich kleine Staubschichten auf den Buchrücken. Wie bei jedem Bibliophilen sind auch bei mir die Augen größer als der Magen: Ich lege mir mehr Bücher zu, als ich lesen kann. Deshalb entscheide ich mich, zwei Romane – „No Country for Old Men“ (auf Englisch) und einen französischen Kurzroman namens „Nagasaki“ – in der Bibliothek der Université Paul-Valéry in Montpellier freizulassen, wo ich gerade ein Auslandsjahr verbringe.
Schenkt man dem vom Kalifornier Ron Hornbaker erdachten Book-Crossing-Glauben, gibt es aktuell 1,2 Millionen Mitglieder und über zehn Millionen durch die Welt reisende Bücher. Von den zehn aktivsten Ländern ist Deutschland dabei auf Platz zwei. Über das Freilassen und Fangen hinaus bietet Book Crossing ein soziales Netzwerk mit Conventions und Wettbewerben. Idealerweise ist die Aktion mehr als nur „die Bibliothek für die ganze Welt“, wie es die Webseite beschreibt. Über den Umweg der im Internet registrierten Bücher soll gedruckte Literatur Menschen offline einander näher bringen.
Der Erfolg dieses Konzepts ist allerdings stark vom Zufall abhängig. Nicht jeder Lesende bringt eine Begeisterung für Bücher auf, die über das reine Lesen hinaus geht. Bei etwas mehr als einer Million Mitgliedern in 132 Ländern ist die Chance eher gering, dass der neue Besitzer eines Romans bei Book Crossing registriert ist oder sich durch den kleinen Infotext, den man ins Buch klebt, dazu motiviert fühlt. Das Ziel, sein Buch frei- und damit einem Unbekannten zu hinterlassen, wäre zwar erreicht. Verfolgen wird man es jedoch nicht können. Da ist es sicherer – wenn auch weniger spannend – seine Schmöker an einen lesebegeisterten Freund weiterzugeben. Laut Angaben der Webseite werden gerade einmal 20 bis 25 Prozent der freigelassenen Bücher auf Book Crossing wieder als gefunden oder „eingefangen“ gemeldet.
Drei Monate später hat sich auch auf meinem Account nichts bewegt. Meine Bücher in der Universitätsbibliothek freizulassen war wohl nicht ganz durchdacht. Ich hatte gehofft, dass sie in der internationalen Studentenstadt Montpellier neue Besitzer finden, die sich genug für Bücher begeistern, um bei diesem Spaß mitzumachen. Stattdessen hat das Bibliothekspersonal die Romane eingesackt, um den eigenen Bestand zu erweitern. Schade, war aber eigentlich vorhersehbar. Ich starte einen zweiten Versuch: Diesmal deponiere ich eine (erneut französische) Kurzgeschichten-Sammlung auf einer Parkbank, in der Hoffnung, dass sie für mich die Welt erkundet.
Anders als bei CDs oder Filmen werden Bücher oft nur einmal gelesen und danach als Trophäen ins Regal gestellt. Book Crossing fordert stattdessen dazu auf, ihnen das Leben zurück zu geben und sie auf Reise zu schicken. Das gedruckte Buch ist noch lange nicht tot.
von Philipp Fischer