Das Selbstverteidigungssystem Krav Maga hilft, bei gewaltsamen Übergriffen intuitiv zu handeln.
Eine Situation, wie sie oft passieren kann: Man war abends mit Freunden gesellig in der Kneipe. Leider muss man früher nach Hause. Der Weg ist nicht weit und gut bekannt, so macht man sich gemütlich zu Fuß auf den Weg. Es ist spät, die Straßen sind leer. Plötzlich und wie aus dem Nichts stürmen zwei Männer aus einer Seitengasse. Ein Schlag in den Bauch, mehrere ins Gesicht. Man ist überrumpelt, geht schnell zu Boden und muss dann auch noch Fußtritte einstecken. Die beiden Täter nehmen sich alles Wertvolle. Mit Schmerzen, ohne Wertsachen und der Würde beraubt wird man alleine auf dem Boden zurückgelassen.
Um solchen Situationen vorzubeugen, oder sie zumindest so glimpflich wie nur möglich ablaufen zu lassen, sollte man vorbereitet sein. Das Selbstverteidigungssystem „Krav Maga“ eignet sich dazu besonders gut, da es den Schwerpunkt auf alltägliche Situationen legt.
Im Rohrbacher Industriegebiet befindet sich das Boxgymnasium. In der „Schule“ für Kampf- und Selbstverteidigungskurse kann man unter Anderem auch Krav Maga lernen. An einem Donnerstagabend ist die Trainingshalle gut gefüllt. Der Boden ist mit Matten ausgelegt. Am Rand hängen Reihen von Boxsäcken. Die Wände sind mit Spiegeln und Gürteln tapeziert, die als Trophäen bei Wettkämpfen erstritten wurden. Gerade finden hier mehrere Kurse gleichzeitig statt. Laute Musik stachelt zu körperlichen Höchstleistungen an.
Pünktlich um Acht beginnt unser Kurs. Zum Aufwärmen laufen wir durcheinander. Dabei deuten wir Schläge an, vor denen sich das jeweilige Opfer möglichst zu schützen versucht. So bleibt der Körper angespannt. Zwischendurch gibt es mehrere Durchgänge Sit-ups, Liegestützen und Ähnliches. Anfänger sind so bald völlig erschöpft. Aber es hilft nichts: Im Ernstfall „kann man den Täter auch nicht um eine Pause bitten“, so Michael Linak, der Trainer des Kurses. Also geht es weiter mit spezifischen Übungseinheiten.
Entwickelt aus einer Mischung von Boxen und Ringen, hat Krav Maga seinen Ursprung in der israelischen Armee, in der es noch heute zur Ausbildung gehört. Die Techniken orientieren sich eng an den natürlichen Schutzreflexen des Menschen. So vereinfacht Linak: „Wenn man beim Handball bei einem plötzlichen Wurf auf den Kopf die Hände blitzschnell vor das Gesicht hält, hat man quasi die erste Krav Maga Technik erlernt.“ Das wird auch im Training deutlich: So sind die meisten Übungen vom Knie-Hieb in den Unterleib des Angreifers bis hin zum Hämmern mit der geschlossenen Faust auf dessen Kopf leicht verständlich und intuitiv durchführbar.
Dass der ein oder andere Schlag auch mal etwas mehr weh tut, lässt sich so nicht vermeiden. Zimperlich sollte man jedenfalls nicht sein, wenn man Krav Maga lernen möchte. Die Techniken sind nicht selten ruppig oder sogar brutal. Aber gerade deshalb eignen sie sich, um im Ernstfall richtig zu reagieren, wenn man es mit einem wirklich brutalen Angreifer zu tun hat.
Einziges Ziel des Selbstverteidigungssystems ist es, sich schnellstmöglich der vom Angreifer aufgezwungenen Kampfhandlung zu entziehen und ihn dabei ausreichend zu schwächen, um Raum für eine Flucht zu haben. Unmittelbar, nachdem man sich vom Angreifer gelöst hat, erfolgt das „Scanning the Area“: Dazu gehört, sich allgemein zu orientieren und nach weiteren Angreifern und potenziellen Fluchtwegen Ausschau zu halten. Das Umschauen und Andeuten der Flucht ist essenzieller Teil einer jeden Übung. Besonders heutzutage, da viele Menschen während des Gehens in ihr Smartphone vertieft sind, hat diese Technik (das „Scanning the Area“) Relevanz. Das schlichte Gewahrsein darüber, „ob es fünf oder zehn Meter bis zur nächsten Mauer sind“, können im Ernstfall entscheidend sein, so Linak.
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FOTOSTRECKE Einblicke in das Krav-Maga-Training
Wichtig ist dem Trainer auch, eine möglichst realistische Trainingssituation zu erzeugen. Physisch und psychisch sollen die Kursteilnehmer sich der Ernstsituation so nah wie möglich fühlen. So wird der Puls durch kontinuierliche Kraftübungen hoch gehalten. Auch Situation mit mehreren Angreifern, die bedrohlich über einem stehen, während man hilflos am Boden liegt, dienen dabei, ein authentisches Gefühl der Gefahrensituation zu bekommen.
Die Kursteilnehmer kommen nicht nur aus Heidelberg: Bis zu 35 km legen manche auf dem Weg zum Training zurück. Grund könnte sein, dass der Kurs im Boxgymnasium von der International Krav Maga Federation (IKMF) angeboten wird, dem Verband, der ursprünglich aus Israel nach Deutschland geschwappt ist. Neben dem IKMF gibt es in Deutschland noch viele andere Verbände, die verschiedene Strömungen repräsentieren. Manche von ihnen behaupten zwar „Krav Maga zu machen, würfeln aber de facto ihr eigenes System zusammen und haben gar keine Wurzel mehr nach Israel“, meint Linak.
Krav Maga ist kein Kampfsport. Es gibt weder Wettkämpfe noch Punktesystem, keine Techniken die auf Schönheit getrimmt sind. Dafür eine breite Palette an Taktiken, die den verschiedensten Gefahrensituationen entsprechen. „Wie verhält man sich in beengten Räumen, im Auto, bei mehreren Angreifern, oder welche Alternativen gibt es zum Nahkampf: Kann man den Angreifer vielleicht mit etwas bewerfen, um somit sofort flüchten zu können?“ Das sind die Fragestellungen, die man im Training behandelt. So hilft einem die Ausbildung im Selbstverteidigungssystem, sich in Gefahrensituationen, wie beispielsweise bei einem Überfall auf dem Heimweg, intuitiv richtig zu reagieren. Eine gewisse Schmerztoleranz und die Bereitschaft an seine physischen Leistungsgrenzen zu gehen, sollte man jedoch mitbringen.
Jasper Bischofberger