Der Fall „Henri“ in der Talksendung „Günther Jauch“ löste eine gesellschaftliche Debatte aus. Seit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen haben Eltern die Wahl zwischen Sonder- und Regelschule. Utopie von Gleichberechtigung oder Weg zu einer gerechteren Gesellschaft? Der Lehrer Wolfgang Rauch hält echte Inklusion derzeit noch für unmöglich.
Inklusion ist so etwas wie Kommunismus“, so äußerte sich ein Schulleiter vor kurzem in der taz.
Als vor ein paar Jahren klar wurde, dass die Inklusion in Deutschland kommen muss, wurde diskutiert, ignoriert und verharmlost. Fast niemand kümmerte sich wirklich um den Auftrag der Inklusion: „… alle gesellschaftlichen Bereiche müssen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zugeschnitten sein oder geöffnet werden“, wie es in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen heißt.
Denn „die Normalität des gemeinsamen Lebens mit und ohne Behinderungen steigert die Lebensqualität aller Bürger“. Reden wir von einem Schulleiter, der die Inklusion nicht verordnet haben möchte? Von der Freiwilligkeit aller Beteiligten? Von einer falsch verstandenen Öffnung von Schulen?
Die Teilhabe von sogenannten Behinderten jenseits von Rolli-Rampen, die von übereifrigen Bürgermeistern schon als inklusive Maßnahmen behandelt werden, wird bestimmend sein, WIE sich unsere Gesellschaft entwickeln wird.
Ob wir den Diffamierungen, Beleidigungen, Stigmatisierungen und Verfolgungen gegenüber Schwächeren, Behinderten oder Alten im Alltag tatenlos zusehen oder ob wir bereit sind, diesen Menschen überall zu begegnen: Im Kindergarten, in der Schule, in der Freizeit und anderswo. Es stimmt nicht, dass nur Spezialisten in dafür genutzten Gebäuden diese Begegnung ermöglichen können. Denn wenn diese Spezialisten überall arbeiten, verändern sie Zusammenarbeitsformen in Schulen, die Rücksichtnahme und die Sichtweise von allen Beteiligten. DAS ist Veränderung und kein Kommunismus, lieber Schulleiter!
Als Lehrer habe ich an einer Schule für Erziehungshilfe gearbeitet. Räumlich durch eine Mauer und im Pausenhof durch einen Zaun getrennt von den benachbarten Grundschülern. Außer dass sich die Kinder durch den Zaun gegenseitig angespuckt haben, fanden keine Kontakte statt. Los geht’s mit Inklusion, was sonst?
Woher kommen die Widerstände von Lehrkräften und Eltern? Meist von der Befürchtung, dass die Umsetzung der Reform auf dem Rücken der Beteiligten stattfindet. Diese Angst ist nicht unbegründet, denn „Schulversuche“ verunsichern häufig statt zu bestärken. Vordergründig wird der Leistungsgedanke als Gegenspieler der Inklusion genannt. Die Ängste, dass „mein Kind“ gemeinsam mit Behinderten schlechter lernen kann, sind unbegründet, wie Inklusionsklassen zeigen. Der „Zugewinn“ wird als zu vernachlässigende Größe angesehen, weil soziale Kompetenz nicht als gleichwertige Kompetenz zu den Schulfächern angesehen wird.
Die GesamtlehrerInnenkonferenz meiner Schule in Mannheim stimmt dem
Ministerratsbeschluss vom 3. Mai 2010 zum Thema „Schulische Bildung von jungen Menschen mit Behinderung“ unter Vorbehalt zu: In der allgemeinen Schule müssen den spezifischen Bedürfnissen der SchülerInnen Rechnung getragen werden.
Weitere Voraussetzungen sind unter anderem die Erweiterung der sonderpädagogischen Professionalität auf die erwarteten Zusammenarbeitsformen, sowie ein Unterstützungsangebot für die Lehrkräfte der Regelschule.
Leider hält sich in der Praxis fast niemand an diese gutgemeinten Vorgaben. Zu vielfältig sind wieder einmal die „Versuche“, die keine Linie verfolgen und deren Leidtragende die LehrerInnen beziehungsweise die SchülerInnen sind. Schlimmstenfalls geben Eltern ihre Kinder nicht in die dafür zuständige Regelschule, weil sie der Meinung sind, dass diese der Problematik der Kinder nicht gerecht werden.
Vielfalt wird positiv bewertet. Die Regelschullehrer profitieren davon nicht, weil die ihnen zustehende Unterstützung fehlt. Wer trotzdem meint, sich von inklusiver Pädagogik nicht mehr anregen lassen zu können, sollte sich Fragen stellen wie: Werden neue Schüler und Mitarbeiter durch Rituale willkommen geheißen? Werden die Klassen nach Vielseitigkeit eingeteilt? Wird die Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler als Last oder als Chance für das Lernen empfunden? Wird der Unterricht auf die Vielfalt der Schüler hin geplant? Ist das Schulgebäude barrierefrei?
Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur von der Schule bewältigt werden kann. Veränderungen benötigen Zeit und Sicherheit. Beides gesteht man den Lehrkräften selten zu. Trotzdem wird die Inklusion unser Zusammenleben nachhaltig positiv verändern. Weil es die Sicht auf die Menschen verändert: „Es ist nicht Aufgabe des Menschen mit Behinderungen, sich anzupassen, um seine Rechte wahrzunehmen.“