Ein Kommentar
Man sitzt in seiner Vorlesung, vorzugsweise ist es eine über tote, traurige Männer, und beginnt, so subtil wie ein Versehen, sich zu schämen. „Wenn Sie sich noch immer Ihre Mails von Google mitlesen lassen, es tut mir leid, aber dann sind Sie selbst schuld. So blöd kann man doch gar nicht sein!“ Roland Reuß, Professor am Germanistischen Seminar, ist der Schonung müde geworden und proklamiert seine umfassende Weltwarnung vor Datenfreigiebigkeit, Amazon und anderem Übel in den Auftaktsalven seiner Vorlesungen. Der Student von heute, so gibt Reuß regelmäßig zu befürchten, sei ein konformistischer, unreflektierter Lethargiker, dessen Wahrnehmungsspektrum nicht über das der Primärfarben des Google-Logos hinausgeht. Oder nur wenig mehr tröstlich: Der Student ist von einem zu Folgsamkeit und praktisch verzweckter Anwendbarkeit erziehenden Universitätssystem verwöhnt und damit letztlich betrogen. Klingt nach Polemik, ist auch so gemeint.
Es verwundert nicht, wenn Herr Reuß, der Text- und Weltkritiker, nun einem Konstanzer Zoologieprofessoren zur Seite geht, der von der verlorenen „Ehre und Ehrlichkeit“ der Studenten schreibt. In der FAZ las man am 16. April von Axel Meyer über die Konstitution der Studenten. Vor allem fehle es an Ehre: Studenten schummeln, lesen nicht mehr und pflegen mit reichen Eltern im Rücken eine laxe Haltung zu Studienfinanzierung und Prüfungsfristen. Stipendien, BAföG, „Zuwendungen und Ermäßigungen“ seien leicht zugänglich, Prüfungen fast beliebig wiederholbar. Man mag sich fragen, mit welcher Wirklichkeit dieses Bild denn nun zur Deckung kommt und selbst wenn sie sich fände, bleibt dunkel, wieso sich der Zugang zu Bildung für möglichst viele nach einem larmoyanten Vorwurf anhört. Meyer glaubt eine studentische Kultur bankrott, in der man „auf das Gelernte stolz sei“, Lehrbücher als Reminiszenz an die prägenden Jahre des Studentenlebens in gut sortierten Privatbibliotheken exponierte. Das klingt bestechlich, wie alle Liebeserklärungen an die goldene analoge Zeit, fällt aber nur zu leicht einem pauschalen und damit leicht wohlfeil klingenden Kulturpessimismus anheim. Das ist, wie auch Reuß bemerkt, wenig produktiv.
Ebenso problematisch, aber gleichwohl hier: Wenn der Heidelberger Professor zu bedenken gibt, dass man heute zwar „unverstanden ein Smartphone zu bedienen“ wisse, nicht aber mal mehr Kopfrechnen könne, geschweige denn orthographische Gesetze zur Anwendung bringe, dann bemüht er damit gleichsam eine recht starr normierte Klassifizierung von Wissen: Reuß formuliert apodiktisch seine Deutung von Wirklichkeit – eine streitbare.
Man sitzt in seiner Vorlesung, lernt über tote, traurige Männer und schämt sich. Was man bei Reuß aber in den übrigen 80 Minuten lernt, ist nicht eine Anklage gegen die Schlechtigkeit der gegebenen Welt einzuüben, sondern vor allem Sorgfalt bei ihrer Wahrnehmung. Er weiß um die Wichtigkeit eines Kommas und um die Vereinnahmung der Sprache durch eine übergriffige Bürokratie. Das mag dem einen antiquiert, dem anderen kleinlich und dem nächsten borniert bürgerlich erscheinen; ihn aber misszuverstehen als pöbelnden Studentenhasser, tut Reuß als Paradigma des unzufriedenen Lehrers Unrecht: Gerade wer beherzt und passioniert in die Welt pöbelt, ob gerechtfertigt oder nicht, bringt damit eines zum Ausdruck: Ich bin enttäuscht und denen ist doch mehr zuzutrauen. Packt uns ruhig an unserer Ehre, Alarm schlagen muss man nur dann, wenn das niemanden mehr interessiert.
von Hanna Miethner