Fast scheint es, als hätte das beschauliche Heidelberg die 68er-Bewegung verschlafen. Dann aber entzündet ein Prozess den Unmut der Studenten. Und aus der altehrwürdigen Universitätsstadt wird ein Zentrum der Revolte.
Im Winter 1968/69 verwandelt sich das romantisch verschneite Heidelberg in einen brodelnden Kessel: Studenten marschieren zu Tausenden durch die Altstadt; Polizisten stürmen die Räume des AStA; In den Straßen kommt es zu Schlägereien. Die FAZ wirft die Frage auf, ob Heidelberg nicht die „Zitadelle des Aufruhrs“ genannt werden könne, nicht das Zentrum der deutschen Studentenbewegung sei – die im Rest der Republik, so scheint es, ihren Zenit bereits überschritten hat.
Ein halbes Jahr zuvor herrscht in Heidelberg noch relative Ruhe. Da gibt es bereits in vielen Städten weltweit eine starke Studentenbewegung, nach dem Jahr ihrer größten Entfaltung auch als ’68er-Bewegung bekannt – ob in Paris oder Berlin, San Francisco, Tokyo oder Prag. In Heidelberg aber verläuft das Sommersemester 1968 friedlich. Doch auch hier stehen die Zeichen auf Veränderung. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) ist die stärkste politische Hochschulgruppe. Er hat sein Büro in der Sandgasse, bestehend aus zwei leeren, verdreckt Räumen, in denen es an Stühlen fehlt und dessen einziger Luxus ein Tauchsieder, Pulverkaffee und mehrere Wassergläser sind. Hier beschließt er politische Aktionen oder debattiert über Dinge wie die tschechoslowakische Wirtschaftspolitik. Gelegentlich veranstaltet er Protestaktionen, beispielsweise gegen die Olympiade in Mexiko, oder Diskussionsabende zum Thema Sexualität. Mit ihrer Meinung zu politischen Büchern bestimmen seine Mitglieder deren Verkaufszahlen. Ihre Versammlungen enden regelmäßig im „Cave“, wo sie bei Schließung um 4 Uhr 30 die Internationale singen.
Die Kritik des SDS richtet sich im Wesentlichen auf die Dinge, die auch anderswo in Westdeutschland die Studenten auf die Barrikaden treiben: Die Ausbeutung der dritten Welt, der Vietnamkrieg (was durch die US-Streitkräfte in Heidelberg besondere Brisanz besitzt), die verdrängte Nazi-Vergangenheit, die Notstandsgesetze und die beschränkte studentische Mitbestimmung. In letztem Punkt kann er auf ein breites Bündnis im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) setzten, denn der Wille zur Erweiterung der studentischen Mitbestimmung ist unter den Studenten Konsens, selbst der christlich-konservative RCDS ist dafür.
Im Dezember entflammt der Protest. Vier SDS-Mitgliedern, die zur Entlarvung Wahlplakate der NPD mit Hakenkreuzen übermalt hatten, droht ein Prozess. Auch fünf weitere, die eine Veranstaltung der Universität gestört hatten, sind wegen Nötigung, Land- und Hausfriedensbruch angeklagt. Da kurz vor den Weihnachtsferien eine angemessene öffentliche Aufmerksamkeit im Verfahren nicht gewährleistet scheint, fordern 800 Heidelberger Studenten in einer Resolution eine Verschiebung des Prozesses, und begleiten die Angeklagten in einem Demonstrationszug zum Gericht. Als das Landgericht, dass sich dadurch offenbar provoziert fühlt, einen Haftbefehl ausstellt, fliehen die Fünf. In einem Dorf in den Cevennen werden sie aufgestöbert, können aber erneut untertauchen. Pünktlich zum Prozesstermin Anfang Januar tauchen sie dann plötzlich wieder in Heidelberg auf. In einer Demonstration ziehen 2000 Studenten mit ihnen zum Gericht, höhnisch rufend: „Die Angeklagten sind unter uns!“ und „Holt sie euch!“
Darauf stürmt zwei Tage später um sechs Uhr morgens eine Hundertschaft der Polizei, mit Äxten zum Aufbrechen der Türen ausgerüstet, die Räume des AStA in der Grabengasse, wo sich die Angeklagten aufhalten. Studenten, die durch eine Sitzblockade den Weg versperren, werden verprügelt und festgenommen, einem Fernsehreporter die Kamera entwendet und der Film zerstört. Die fünf Angeklagten werden ins Landesgefängnis nach Mannheim verbracht, ebenso sieben weitere Studenten, gegen die ein Haftbefehl erlassen wird.
Auch bei den Studenten, die mit dem SDS nichts zu tun haben, ruft das Vorgehen der Polizei Empörung hervor. Am 13. Januar versuchen mehrere Studenten, das Juristische Seminar zu besetzen, müssen aber abziehen, weil die Polizei bereits informiert und vor Ort ist. Stattdessen besetzen sie auf dem Rückweg spontan das Psychologische und das Politologische Seminar, das sie in „Rosa-Luxemburg-Institut“ umbenennen. Anfang Februar versuchen einige, mit einem Rammbock ins Rektorat einzudringen, um es ebenfalls zu besetzen, scheitern aber an der Stabilität der Tür.
Derweil toben draußen Straßenschlachten mit der Polizei. In den verwinkelten Gassen sind die Studenten taktisch überlegen. Und das harte Vorgehen der Polizei, das meist unbeteiligte Passanten trifft, mobilisiert nur noch mehr Studenten sowie Teile der Arbeiterschaft. Zugleich aber wenden sich viele Bürger gegen die Studenten, einige denken an die Aufstellung von Bürgerwehren. Ein Abschleppunternehmer entfernt auf eigene Faust mit seinem Kran die rote Fahne des AStA. Als die Universität am 10. Februar schließlich wieder öffnet, gilt die Lage als beruhigt.
Doch ruhig ist es noch lange nicht. Im folgenden Sommersemester protestieren Studenten gegen geplante Fahrpreiserhöhungen, blockieren Straßenbahnschienen und verteilen rote Punkte an Autofahrer, die bereit sind, Mitfahrer aufzunehmen. Nach einigen Wochen wird die Preiserhöhung zurückgenommen. Dann marschieren wieder mehr als tausend Studenten gegen den Vietnamkrieg, während einige Radikale unter ihnen das Amerika-Haus verwüsten und das Südasien-Institut in Brand stecken, dass sie geheimer Auftragsarbeiten für die USA verdächtigen. Wenig später wird der Rektor bei einer Debatte mit Eiern und Tomaten bombardiert. Immer wieder kommt es zu Protestaktionen, Demonstrationen und Besetzungen, werden „alternative Vorlesungen“ abgehalten oder amerikanische Soldaten in Flugblättern zum Desertieren aufgefordert. Und dennoch: So angespannt wie im Wintersemester ’68/69 wird die Lage in Heidelberg nie wieder.
Auch der SDS, lange Zeit treibende Kraft der Revolte, verschwindet. Als sich im März 1970 der Bundesverband auflöst, besteht die Heidelberger Gruppe noch drei Monate weiter, dann wird auch sie aufgelöst.
von Michael Abschlag